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Mann hört schlechte Musik und bekommt einen Ohrwurm

Ungebetene Gäste: Wie Ohrwürmer entstehen und was sie mit Dir machen

Dauerberieselung mit Musik ist eine gängige Foltermethode, was einen Ohrwurm natürlich herzlich wenig interessiert. Hat er einmal zugeschlagen, geht der Melodiefetzen rund im Kopf. Ungebetener Besuch im Gehörgang kann zu jeder Zeit anklopfen, doch nicht jeder Song hat das Zeug dazu, sich einzunisten. Wie entsteht ein Ohrwurm und was passiert dabei im Gehirn?

Was ist ein Ohrwurm?

Wenn Du eine Melodie hörst und sie Dir danach nicht mehr aus dem Kopf geht, hast Du einen Ohrwurm. Damit bist Du in guter Gesellschaft, denn rund 99 Prozent der Weltbevölkerung werden mehr oder weniger oft von diesem Phänomen heimgesucht. Der deutsche Begriff, der so aussagekräftig ist, dass er auch als „earworm“ ins Englische übernommen wurde, leitet sich von dem gleichnamigen Insekt ab, das laut Volksglauben gerne in den Gehörgang kriecht. In die Musikwelt gebracht hat den Begriff der Operettenkomponist Paul Lincke (1866-1946), der damit einen Schlager meinte, der sich förmlich in das Gehör bohrt. Im englischsprachigen Raum haben Edgar Allan Poe und Mark Twain die „sticky music“, die klebrige Musik, die sich im Gehörgang festsetzt, erschöpfend beschrieben. Der Duden definiert den Ohrwurm als Lied, Schlager oder Hit, der sehr einprägsam und eingängig ist. Begleitet Dich Dein Lieblingsong durch den Tag, bist Du beschwingt und gut gelaunt. Hat Dich hingegen ein nerviger Ohrwurm erwischt, würdest Du Dir am liebsten die Haare ausraufen. Doch wie entsteht überhaupt ein Ohrwurm?

Wie Ohrwürmer entstehen

Sigmund Freud, Vater der Psychoanalyse, hat Ohrwürmer als geheime Wünsche, die gehört werden wollen, gedeutet. Ganz so einfach ist es allerdings nicht mit den ungebetenen Gästen im Gehörgang. Prinzipiell kann es jeden erwischen, doch hat James Kellaris, Professor für Marketing an der University of Cincinnati, herausgefunden, dass Frauen häufiger betroffen sind als Männer und Musiker öfter von ungewollten Melodien heimgesucht werden als Nicht-Musiker. Ohrwürmer lieben es, wenn ihre Opfer automatisierte, alltägliche Tätigkeiten wie Putzen, Fahrradfahren, Abwaschen oder Rasieren ausüben. Das Gehirn ist während dieser Zeit nicht gefordert und füllt diesen Leerlauf mit Musik. Wenn Du einen Song bereits gut kennst, erhöht sich die Chance, dass Du Dir einen Ohrwurm einfängst. So zeigte sich in einer Versuchsreihe am Kasseler Institut für Musik, dass den Probanden 60,5 Prozent der gespielten Musikstücke bereits bekannt waren. Nur 24,4 Prozent der Ohrwürmer waren neu. Während Melodien eher selten das Zeug dazu haben, zum Dauerbrenner zu werden, hinterlassen vor allem Lieder in der Muttersprache einen bleibenden Eindruck. So besaßen drei von fünf Ohrwürmern in der Kasseler Studie einen deutschen Text. Prof. Dr. Christoph Reuter vom Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Wien hat beobachtet, dass Ohrwürmer nicht nur bei mangelnder Auslastung der kleinen grauen Zellen entstehen, sondern auch in Situationen, in denen Du gestresst oder müde bist. Wenn Du lange am Stück Musik hörst, hat entweder der erste oder der letzte Song das Potenzial zum Ohrwurm. Die gute Nachricht: Bei der überwiegenden Mehrheit der Ohrwürmer handelt es sich um Songs, die Dir gefallen. Trotzdem kommt es von Zeit zu Zeit vor, dass sich in Deinem Gehörgang ein Stück festsetzt, dass Dir gehörig auf die Nerven geht. Auch das ist laut einhelliger Meinung der Forscher typisch für Ohrwürmer: Sie lösen bei den Betroffenen starke Emotionen aus – entweder positive oder negative und diese ausgeprägte Reaktion hilft dabei, das Lied im Gedächtnis zu behalten.

Fast alles kann einen Ohrwurm auslösen

Ein Ohrwurm ist nicht planbar. Manchmal setzt er direkt nach dem Hören ein und in anderen Fällen erst Tage später. Ein Team von Wissenschaftlern aus Großbritannien hat 333 Berichte aus einer Frühstückssendung der BBC ausgewertet, in denen Zuhörer ihre Ohrwürmer beschrieben haben. Mit dem Ergebnis, dass fast jeder Gedanke oder auch eine Sinneswahrnehmung einen Ohrwurm auslösen kann. Manche Menschen erinnern sich den letzten Urlaub und werden plötzlich von dem Sommerhit verfolgt, der immer in der Disco lief. Andere erinnert ein Geruch an eine bestimmte Person und schon wird eine Verbindung zu einer Melodie hergestellt. Timothy Griffiths, Neurologe an der Newcastle University interpretiert den Ohrwurm als eine musikalische Warteschleife des Gehirns. Da permanent im Gehirn neuronale Entladungen stattfinden, beginnt unser Denkorgan irgendwann, rhythmische oder musikalische Muster kurz zuvor gehörter Musik dort hineinzudeuten. Mit dem Ergebnis, dass diese Melodiefetzen sich selbständig machen und als endlose Wiederholungen durchs Gehirn geistern. Ein Ohrwurm ist dabei nie ein komplettes Stück. In der Regel handelt es sich um kurze Themen, die drei bis vier Takte umfassen und maximal zwanzig Sekunden dauern. Das erklärt, warum wir so anfällig gegenüber Werbejingles oder einem Refrain Marke „Life is life nananana“, „YMCA“ oder „Looking for Freedom“ sind. Bei Erkennungsmelodien von Serien handelt es sich ebenfalls um klassische Ohrwürmer. Griffiths, der eigentlich über musikalische Halluzinationen forscht, hat herausgefunden, dass sogar Schwerhörige von Ohrwürmern betroffen sind. Plötzlich tauchen im Kopf einst beliebte Stücke auf. Das zeigt, dass wir Ohrwürmern gar nicht entkommen können. Die für die Musikverarbeitung im Gehirn zuständigen Regionen sind permanent auf der Suche nach Tönen, die sie interpretieren können. Fehlt der Impuls über die Ohren, werden Hirnimpulse als Töne gedeutet und mit musikalischen Erinnerungen abgeglichen – schon ist die Endlosschleife im Gange.

Warum Ohrwürmer so hartnäckig sind

Ein Forscherteam um Ira Hyman von der Western Washington University spielte Studenten Fragmente von Lady Gaga, Beyoncé und den Beatles vor. Die Versuchspersonen wurden zunächst befragt, ob sie diese Lieder kannten und wie oft sie diese hörten. Danach mussten die Probanden fünf Minuten lang verschiedene Aufgaben lösen und angeben, ob sie dabei etwas von der gespielten Musik im Kopf gehört hatten. Nach 24 Stunden erhielten die Studenten eine Mail und wurden erneute befragt, welche Lieder sich bei ihnen festgesetzt hatten. Denn ein echter Ohrwurm lässt nicht locker. Einmal im Ohr, kehrt er mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Tages wieder zurück. Hyman macht dafür den Zeigarnik-Effekt verantwortlich. Demzufolge erinnert sich das Gehirn besser an Aufgaben, die unterbrochen wurden als an bereits Erledigtes. Fragmente von Songs erhöhen die Spannung und der Hörer möchte dranbleiben. Dieses Untersuchungsergebnis bestätigen die Kollegen vom Dartmouth College in New Hampshire. Im Magnetresonanztomografen wurde den Probanden „Satisfaction“ von den Rolling Stones“ und die Titelmelodie von „Pink Panther“ vorgespielt. Nach einer Weile wurde die Musik abgedreht. Im Gehirn der Studienteilnehmer ging es jedoch munter weiter und das Hörzentrum blieb aktiviert. Jeder der Probanden wollte die Melodie im Kopf unbedingt vervollständigen. Ein Prinzip, das von optischen Täuschungen bekannt ist. Bei Musik ist es jedoch deutlich leichter, denn das Gehirn orientiert sich an musikalischen Konventionen. Da Musik immer bestimmten Schemata folgt, willst Du den Songfetzen unbedingt ergänzen. Dabei verfängst Du Dich dann in einer Endlosschleife. Das passiert sensiblen und introvertierten Menschen häufiger als rational denkenden Zeitgenossen. Wie lange Du davon betroffen bist, ist ebenfalls ganz unterschiedlich. Manchmal ist der Spuk nach fünf Minuten vorbei, in anderen Fällen sind es Tage oder sogar Wochen.

Gibt es eine Ohrwurm-Formel?

Würde ein Ohrwurm steckbrieflich gesucht werden, wäre auf dem Plakat „bequemes Tempo, einfache Melodie, mittlere Singhöhe“ zu lesen. Irgendwie scheint das tatsächlich auf alle Ohrwürmer zuzutreffen. Dieser Meinung sind auch die Forscher der Universität St. Andrews, die eine Ohrwurmformel entwickelt haben. Sie lautet: Aufnahmefähigkeit + (Vorhersehbarkeit – Überraschung) + (melodisches Potenzial) + (rhythmische Wiederholung x 1,5) = Ohrwurm. Volkmar Kranz, selbst Rockgitarrist und Musikwissenschaftler an der Universität Bonn, kann ebenfalls nachweisen, warum ein Ohrwurm im Gehörgang kleben bleibt. Zu diesem Zweck hat er die erfolgreichsten Popsongs der Jahre 2007 bis 2014 analysiert. Darunter die Sieger von „Grammy“, „Echo“, „Eurovision Songcontest“ und die „Singles des Jahres“ aus Deutschland und Großbritannien. Kranz überprüfte alle Stücke hinsichtlich Melodik, Harmonik und Rhythmus. Dabei stellte sich heraus, dass die Hits auf drei Akkordfolgen beruhen, nämlich C-Dur/a-moll/F-Dur/G-Dur oder a-moll/ F-Dur/C-Dur/G-Dur. Diese zweite „Pop-Formel“ findet sich bei „Atemlos“ von Helene Fischer und Lenas Eurovisions-Gewinntitel „Satellite“ aus dem Jahr 2010. Beliebt ist auch das Schema C-Dur/ G-Dur/a-Moll/F-Dur. Eine Mode, möchtest Du denken. Doch dieser Muster haben sich schon Marlene Dietrich und die Beatles bedient, sie sind sozusagen ein Dauerbrenner der modernen Musik. Kranz wollte es nun genau wissen und spielte Songs mit diesen Akkordfolgen einer bunt gemischten Probandengruppe zwischen 20 und 72 Jahren vor. Mit dem Ergebnis, dass die „Pop-Formel“ niemanden kalt ließ und das Wohlfühlzentrum im Gehirn direkt ansprach. Aktiviert wurde auch das Belohnungssystem, das sonst beim Shoppen oder beim Sex auf dem Plan ist. Je konsequenter sich die Musikproduzenten an die Ohrwurmformeln halten, desto erfolgreicher ist ein Song. Hat der eine Hit seine Hochphase hinter sich, folgt sogleich der nächste nach demselben Schema. Also alter Wein in neuen Schläuchen. Wenn Dir jetzt die Vorstellung, von Helene Fischers „Atemlos“ verfolgt zu werden nicht behagt, brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen. Du kannst zwar nicht verhindern, dass dieser Song sich in Dein Gehirn einbrennt – aber Du hast immer noch die Freiheit, ihn schrecklich zu finden.

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